Dennis Hackethal’s Blog

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Wie erzieht man ein Kind zum Glauben an die Freiheit?

Dies ist eine genehmigte (aber nicht geprüfte) Übersetzung des Artikels ›How do you raise a child to believe in freedom?‹, verfasst von Sarah Fitz-Claridge und veröffentlicht auf der Homepage von Taking Children Seriously (Kinder ernst nehmen). Fußnoten sind meine Anmerkungen.


Ein beliebter libertärer Moderator einer Videocast-Show, der gerade im Begriff war, Vater zu werden, hat gefragt: »Wie erzieht man ein Kind zum Glauben an die Freiheit?« Der Gedanke, dass eines seiner Kinder nicht an die Freiheit glauben könnte, schien ihn zu beunruhigen, und er wollte wissen, wie er sicherstellen könnte, dass sein zukünftiges Kind mit ähnlichen Werten wie er selbst aufwächst. (Hat er vielleicht befürchtet, dass sein Kind ruchlose autoritäre Tendenzen entwickelt, die ihm angesichts seiner Stellung in der Öffentlichkeit peinlich sein könnten? Oder war er der Meinung, dass es schrecklich wäre, wenn er selbst einen weiteren autoritären Menschen auf die Welt brächte, der anderen das Leben zur Hölle macht? 😳)

Für mich ist die Frage »Wie erzieht man ein Kind zum Glauben an die Freiheit?« ein Widerspruch in sich. Sie lautet nämlich effektiv: »Wie forme und biege ich mein Kind zu einem Menschen zurecht, der glaubt, dass der Einzelne frei von unerwünschter Formung und Zurechtbiegung durch andere sein sollte?«

Wenn Sie zwar an die Freiheit glauben, aber nicht in Bezug auf Kinder, von denen Sie glauben, dass sie zu ihrem eigenen Wohl kontrolliert werden müssen, dann werden Ihre Kinder Sie als paternalistisch ansehen – also als jemand mit der autoritären Ansicht, dass das Recht des Stärkeren gilt. Wie wahrscheinlich ist es dann schon, dass Ihre Kinder mit einem Glauben an die Freiheit aufwachsen? (Man beachte, wie wenige Menschen frei von den zwanghaften,1 autoritären, antirationalen Memen2 ihrer Eltern sind, obwohl sich viele über ihre Eltern beschweren.) Freiheit ist unteilbar. »Freiheit für mich, aber nicht für dich« ist inkohärent. Wer zwar an die Freiheit für bestimmte Gruppen glaubt, nicht aber für andere, hat eine grundsätzlich autoritäre Haltung.

Wenn Menschen (auch Kinder!) nicht frei entscheiden können, welche Werte und Ansichten sie vertreten – wenn sie Ideen und Werte, die sie nicht überzeugend finden, nicht frei ablehnen können –, in welchem Sinne sind sie dann schon frei?

Es ist durchaus verständlich, wenn wir hoffen, dass unsere Lieben unsere Ideen und Werte teilen, und es ist überhaupt nichts dagegen einzuwenden, interessante und angenehme Diskussionen über solche Themen zu führen. (Je mehr, desto besser!) Ein für beide Seiten angenehmes Gespräch, in dem wir unsere Ideen und Werte mit guten Argumenten darlegen, ist jedoch etwas ganz anderes, als wenn wir unser Kind in unsere eigene, vorher festgelegte Vorstellung davon drängen, wie das Kind zu sein hat – wenn wir dem Kind also unsere eigene Agenda aufzwingen, die von den Wünschen des Kindes unabhängig ist und von diesen nicht berührt wird.

Letztlich ist das Vertreten von Werten wie der Freiheit eine Art von Wissen, und Wissen wird vom Einzelnen geschaffen. Man kann niemanden dazu bringen, den eigenen bevorzugten Wert durch Zwang zu übernehmen. Man kann nicht durch Kontrolle dafür sorgen, dass jemand mit dem Glauben an die Freiheit aufwächst – selbst dann nicht, wenn man die paternalistische Theorie vertritt, dass die Unfreiheit, der man ihn aussetzt, zu seinem eigenen Wohl ist. Man kann niemanden durch Manipulation (die eine verdeckte Form des Zwangs ist) dazu ›bringen‹, Freiheit zu schätzen. Man kann niemanden mit behavioristischer Konditionierung dazu bringen, an die Freiheit zu glauben. Man kann keine Werte (oder sonstige Ideen!) in den Verstand einer Person gießen, so wie man Wasser in einen Eimer gießt.3 Wissen (einschließlich des Freiheitsgedankens und der Wertschätzung von Freiheit) ist nicht wie eine Flüssigkeit, die man von einem Eimer in einen anderen gießen kann, und der Verstand ist nicht passiv wie ein Eimer, der Wasser aufnimmt, sondern er schafft aktiv Wissen.

Sie können sich in einem Gespräch für die Freiheit einsetzen (sofern Ihr Kind das interessiert), und Ihr Kind mag Ihr Argument überzeugend finden. Es könnte Ihr Kind berühren. Vielleicht lässt es das Herz des Kindes höher schlagen – vielleicht aber auch nicht.

Sind Sie selbst zwangsläufig überzeugt, wenn jemand ein Argument für etwas anbringt? Manchmal zwar schon, aber nicht zwangsläufig. Selbst wenn Ihr Gesprächspartner der Meinung ist, dass Sie sich überzeugen lassen, dass Sie sich überzeugen lassen wollen und dass Ihnen die Idee gefällt, kann es sein, dass sie Sie gar nicht überzeugt. Die Idee knüpft nicht an. Sie haben vielleicht explizite Kritikpunkte an der Idee, oder sie erscheint Ihnen im Lichte Ihrer bestehenden Ideen nicht richtig. Oder sie fühlt sich für Sie nicht richtig an, auch wenn Sie nicht genau sagen können, warum: Vielleicht steht sie im Widerspruch zu Ihrem unbewussten Wissen.

Vielleicht führen Sie zu einem späteren Zeitpunkt ein weiteres Gespräch, und plötzlich sehen Sie, dass das, was Ihr Gesprächspartner sagt, Sinn ergibt, und jetzt haben Sie das Gefühl, überzeugt zu sein. Oder vielleicht ist es kein Gespräch, das Sie überzeugt, sondern etwas ganz anderes, was Sie dazu veranlasst, in Ihrem Kopf eine Verbindung herzustellen oder die Argumente des Gesprächspartners in einem größeren Zusammenhang zu sehen, der dann zuvor ungelöste Konflikte in Ihrem Kopf löst, was wiederum dazu führt, dass Sie überzeugt sind.

Es geht darum, dass der Prozess, durch den ein Mensch einen Glauben an die Freiheit entwickelt oder eine andere Idee erwirbt, nicht von außen gesteuert werden kann, und eigentlich handelt es sich dabei auch nicht um etwas, wozu wir uns selbst ›bringen‹ können: Unser Verstand hat sozusagen seinen eigenen Willen. (Wenn Sie schon einmal bewusst von etwas überzeugt werden wollten, sich aber nicht überzeugt gefühlt haben, wissen Sie, was ich meine!) Unser Verstand erkennt aktiv Anomalien und sucht nach Erklärungen, bewertet und prüft alles anhand des im Verstand vorhandenen Wissens, auch auf unbewusste und inexplizite4 Weise. Der Verstand macht dies die ganze Zeit, und zwar aktiv. Das ist weder einfach noch kontrollierbar.

Doch selbst wenn es möglich wäre, jemandem einen bestimmten Wert in den Kopf zu pflanzen – wenn der Wert, den wir in den Kopf einer Person pflanzen wollen, der Glaube an die Freiheit ist –, dann sollte es dieser Person doch freistehen, unsere Idee abzulehnen, und wir sollten doch eher ihr Einverständnis einholen, als uns wie eine Autorität aufzuführen, die ihr unseren bevorzugten Wert aufzwingt?

Wenn Sie also Wert auf Freiheit legen, sollten Sie den Mut haben, Ihre Ansichten zu vertreten und in Übereinstimmung mit diesem Wert zu handeln. Reden sollen Taten folgen, und Ihre Kinder stellen hier keine Ausnahme dar. Machen Sie sich nicht zu einer Autorität, die über Ihre Kinder bestimmt. Versuchen Sie nicht, sie in Ihre eigene, vorher festgelegte Vorstellung davon zu lenken, wer sie sein und welche Werte sie vertreten sollten. Ihre Kinder sind souveräne Menschen. Sie leben ihr eigenes Leben. Würdigen und akzeptieren Sie die Menschen, die sie sind und zu denen sie sich entwickeln.

In ihrer Freiheit können unsere Kinder unsere Ideen überzeugend finden, oder sie können Fehler in unserem Denkprozess erkennen, die wir noch nicht erkannt haben. Sie können unsere Ideen und Werte verbessern, anstatt von unseren Fehlern geplagt zu werden. Und wir haben vielleicht das Privileg, von ihnen zu lernen.

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  1. »[Z]wanghaft« bedeutet hier nicht ›gekünstelt‹, sondern ›Zwang oder Zwangsempfindungen verursachend‹. 

  2. Die Idee der sogenannten antirationalen Meme geht auf David Deutsch zurück. Er stellt diese Idee in seinem Buch Der Anfang der Unendlichkeit: Erklärungen, die die Welt verwandeln vor, dessen Übersetzer ich bin. Er baut auf dem Konzept der Meme (Singular ›das Mem‹) von Richard Dawkins aus dessen Buch Das egoistische Gen auf. Meme sind laut Dawkins Ideen, die sich über viele Menschen hinweg verbreiten. Diese Ideen sind also kulturelle Replikatoren und durchlaufen aufgrund von Variation und Selektion einen evolutionären Prozess, der teilweise analog zur biologischen Evolution von Genen abläuft. So entwickeln sich beispielsweise Witze evolutionär, indem sie von einer Person zur nächsten weitererzählt werden. 

    Deutsch unterscheidet zwischen rationalen und antirationalen Memen, die er wie folgt definiert:5

    1. Rationales Mem: »Eine Idee, die sich auf die kritischen Fähigkeiten der Empfänger stützt, um ihre Replikation zu bewirken«
    2. Antirationales Mem: »Eine Idee, die sich auf die Beeinträchtigung der kritischen Fähigkeiten der Empfänger stützt, um ihre Replikation zu bewirken«

    Kurz gesagt verbreiten sich rationale Meme, weil sie für ihre Träger nützlich sind, wohingegen sich antirationale Meme verbreiten, indem sie kritischen Fähigkeiten ihrer Träger beeinträchtigen, wodurch diese Träger dann gar nicht anders können, als diese Meme weiterzugeben.

    Die Memtheorie ist in diesem Zusammenhang insofern relevant, als dass viele Erziehungsmethoden auch heute noch weitgehend von antirationalen Memen geprägt sind.

  3. Hier bezieht sich die Autorin auf die Kritik des Philosophen Karl Popper an einer Theorie, die er die bucket theory of the mind nennt, sowie auf die Idee, die er stattdessen vorschlägt: dass der Verstand aktiv Vermutungen anstellt, um Probleme zu lösen, und dass sich diese Vermuten im Verstand evolutionär entwickeln, indem sie durch Kritik verbessert oder abgelehnt werden. Popper, Karl. 1979. Objective Knowledge: An Evolutionary Approach. New York: Oxford University Press Inc. S. 341–361. 

  4. Das Wort ›inexplizit‹ bezieht sich auf die konkrete Definition von David Deutsch: Nicht »[m]it Worten oder Symbolen ausgedrückt«. Deutsch, David. 2021. Der Anfang der Unendlichkeit: Erklärungen, die die Welt verwandeln. Oxford: Eigenpublikation. Kapitel 14, Glossar. Auch die Konzepte bewusster sowie unbewusster Ideen gehen auf Deutsch zurück, s. bspw. dieses Interview

  5. Ebenda. Kapitel 15, Glossar. 


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